Presseerklärung
27. November 2013
Koalitionsvertrag: CDU/CSU und SPD planen Ausbau der europäischen Abschreckungspolitik
Bleiberechtsregelung ist wichtiger Fortschritt – PRO ASYL fordert Realisierung in den ersten 100 Tagen
Als insgesamt enttäuschend bewertet PRO ASYL in einer ersten Reaktion den Koalitionsvertrag. „Die Hardliner der Union haben sich bei der europäischen Flüchtlingspolitik durchgesetzt“, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Die SPD ist auf den Kurs der Abschottung eingeschwenkt.“ Der Ausbau der Abwehrmaßnahmen an und vor Europas Grenzen geht einher mit einigen Lockerungen im Inland. Die verabredete Bleiberechtsregelung erachtet PRO ASYL als wichtige Verbesserung, die in den ersten 100 Tagen umgesetzt werden muss. Die Grundpfeiler der Abschreckungspolitik wie Unterbringung in Lagern, das Sachleistungsprinzip oder das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz werden nicht angetastet. Die vorgesehenen Sprachkurse für Asylsuchende und Geduldete sind zu begrüßen, sie können ein Integrationskonzept für Flüchtlinge nicht ersetzen.
Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr – keine Initiative für eine solidarische Flüchtlingsaufnahme in Europa: Die heute vorgestellten Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zeigen, dass die geplante Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD an der Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen festhalten will. Statt humanitäre Antworten auf das Massensterben im Mittelmeer zu formulieren, soll die Abschottung Europas weiter ausgebaut werden. Noch vorletztes Wochenende hat die SPD auf ihrem Parteitag beschlossen: „Nicht erst die dramatischen Schiffsunglücke vor Lampedusa haben uns eindringlich vor Augen geführt, dass es einen grundsätzlichen Kurswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik geben muss.“ Der Koalitionsvertrag setzt stattdessen auf Abschottung mithilfe von Drittstaaten – etwa in Nordafrika: „Die Bereitschaft von Herkunfts- und Transitstaaten bei der Bekämpfung der illegalen Migration, der Steuerung legaler Migration und dem Flüchtlingsschutz besser zu kooperieren soll geweckt oder gestärkt werden.“ Mit anderen Worten: Man hält daran fest, z.B. nordafrikanische Staaten als Türsteher Europas zu missbrauchen, indem diesen Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe im Gegenzug zur Abwehr von Flüchtlingen gewährt werden.
PRO ASYL kritisiert, dass die notwendigen humanitären Antworten auf die Krise der europäischen Flüchtlingspolitik fehlen. Bezogen auf die EU-Staaten an den Außengrenzen fordert der Koalitionsvertrag zwar „mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten“ – was dies konkret heißen soll, bleibt jedoch völlig offen. Eine Änderung der Dublin-Verordnung ist nicht vorgesehen. Dies ist angesichts des Ausmaßes der humanitären Krise der europäischen Flüchtlingspolitik völlig unzureichend.
Fortschritte beim Thema Bleiberecht: Als positiv ist die geplante Bleiberechtsregelung zu bewerten. Der Koalitionsvertrag sieht eine stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung vor, die für langjährig Geduldete den Sprung in eine Aufenthaltserlaubnis ermöglichen soll. Die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts soll ausreichen. PRO ASYL fordert, die vorgesehene Bleiberechtsregelung in den ersten 100 Tagen der Amtszeit der neuen Regierung umzusetzen. Nach dem langjährigen Stillstand in Sachen Bleiberecht wäre dies ein wichtiges Signal: Noch immer leben in Deutschland fast 86.000 Menschen mit einer Duldung, rund 36.000 bereits länger als sechs Jahre.
Koalition will Roma-Flüchtlingen den Zugang zum Asylverfahren verbauen: Der Koalitionsvertrag sieht vor, die Herkunftsstaaten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu „sicheren Herkunftsstaaten“ zu erklären. Dies steht in eklatantem Widerspruch zur Realität. In den drei Herkunftsstaaten werden Angehörige der Roma und anderer Minderheiten massiv rassistisch diskriminiert. Die Diskriminierung ist in vielen Fällen so umfassend, dass den Betroffenen der Zugang zu Arbeit, zu medizinischer Versorgung, zu regulären Wohnungen und oft gar zu sauberem Trinkwasser verwehrt bleibt. Dessen ungeachtet werden bereits heute Roma-Flüchtlinge Schnellverfahren unterworfen, bei denen keine erstzunehmende Prüfung der Fluchtgründe stattfindet, da von vornherein vorausgesetzt wird, die Asylgesuche seien unbegründet. Während in Staaten wie Belgien oder der Schweiz Asylverfahren von Roma im ersten Halbjahr 2013 Schutzquoten über zehn Prozent ergeben und damit der realen Situation in den Herkunftsstaaten zumindest zum Teil Rechnung tragen, sollen sie nach dem Willen der Koalition als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden.
Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Ausland: Das sogenannte Resettlement-Verfahren, mit dem schutzbedürftige Flüchtlinge aus den Erst-Zufluchtsländern aufgenommen werden, soll „deutlich ausgebaut“ sowie der Familiennachzug bezogen auf diese Gruppe erleichtert werden. Allerdings bleibt die Zahl der Aufnahmeplätze offen. PRO ASYL begrüßt die Ausweitung dieses in Kooperation mit UNHCR durchgeführte Aufnahmeprogramms. PRO ASYL fordert, dass die bisherige Zahl von 300 Flüchtlingen pro Jahr um ein Vielfaches gesteigert wird.
Ein Ausbau des Aufnahmeprogramms für syrische Flüchtlinge ist ebensowenig vorgesehen wie eine Erleichterung der Einreise von Syrern, deren Verwandte in Deutschland leben.
Lockerung der Residenzpflicht statt Abschaffung dieser Schikane: Noch immer soll das Instrument der Residenzpflicht – eine EU-weit einmalige Schikane – nicht abgeschafft werden. Stattdessen soll die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Geduldeten jeweils auf das jeweiligen Bundeslandes begrenzt werden. Eine restriktivere Handhabung, wie in Bayern und Sachsen noch praktiziert, wird damit nicht mehr zulässig sein, was zumindest regional eine Verbesserung bedeutet. Bundesweit relevant ist, dass sich Asylsuchende künftig nun eine Woche lang jenseits der Grenzen ihres Bundeslandes bewegen dürfen, und dies nicht mehr eigens beantragen, sondern den Behörden nur noch mitteilen müssen. Ebenso ist zu begrüßen, dass ein Umzug aus dem zugewiesenen Bezirk künftig möglich sein soll, wenn woanders ein Studium, die Berufsausübung oder Berufsausbildung erfolgt.
Verkürzung des Arbeitsverbots – Diskriminierungen beim Arbeitsmarktzugang bleiben: Dass Asylsuchende künftig nach drei Monaten statt bisher neun Monaten eine Arbeitserlaubnis erhalten sollen ist zwar positiv, allerdings will die Koalition an der sich daran anschließenden Phase des „nachrangigen Arbeitsmarktzugangs“ festhalten. Der „nachrangige Zugang“ zum Arbeitsmarkt gilt bis zum Ablauf des vierten Jahrs nach Einreise und bedeutet in der Praxis, dass auch bei Vorliegen eines Jobangebotes geprüft werden muss, ob nicht ein vorrangig zu berücksichtigender Arbeitssuchender zur Verfügung steht. Vorrang haben z.B. Deutsche und EU-Bürger. Nur wenn das nicht der Fall ist, können die Betroffenen die Stelle antreten. In strukturschwachen Regionen führt dies zu einem De-facto-Arbeitsverbot. In anderen Regionen schreckt die bürokratische Hürde Arbeitgeber davon ab, die Betroffenen einzustellen. PRO ASYL fordert ein Integrationskonzept für Asylsuchende von Anfang an. Dazu gehören Integrationskurse, die Unterbringung in Wohnungen, die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und einen uneingeschränkten Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildung.
Beschleunigung der Asylverfahren zu Lasten der Qualität? Hinsichtlich der geplanten Verkürzung von Asylverfahren auf drei Monate weist PRO ASYL darauf hin, dass eine Beschleunigung der derzeit durchschnittlich ca. neun Monate langen Verfahren nicht zu Lasten der Qualität gehen darf. Ein schnelles Verfahren muss ein faires Verfahren sein mit sorgfältiger Aufklärung der Fluchtgründe.
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention: In Sachen Kinderrechte sollen Flüchtlingskinder künftig nicht mehr bereits ab 16 Jahren als verfahrensmündig gelten – ein längst überfälliger Schritt, um den Schutzgedanken gegenüber Minderjährigen in den Vordergrund zu rücken.
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