Mahnwache und Gedenkstunde für Tuğçe
– gegen Gewalt und für Zivilcourage
Tuğçe A. wurde in den frühen Morgenstunden am Samstag mit schweren Gehirnschäden in das Sana Klinikum in Offenbach eingeliefert. Die Studentin und ihre Freundinnen waren von einer Gruppe junger Männer vor der McDonald‘s-Filiale in Offenbach-Kaiserlei angegriffen worden. Einer der Täter schlug ihr dabei in Gesicht, so dass die junge Frau mit ihrem Kopf auf den Boden aufprallte. Vor Ort mussten Erste-Hilfe-Maßnahmen durchgeführt werden, um Schlimmeres zu verhindern. Sie liegt seither im Koma und muss künstlich beatmet werden.
Wir wollen heute auf dem Wetzlarer Bahnhofsvorplatz (zwischen Bahnhof und Forum) Kerzen für Tuğçe aufstellen. Anschließend werden wir einen Text (s.u.) verlesen und eine Schweigeminute halten. Das Ganze beginnt heute um 18.00 Uhr wird spätestens um 19.00 Uhr beendet sein.
Liebe Tuğçe, bitte stirb nicht.
Du musst aufwachen, die Augen öffnen, wieder lachen, erzählen, träumen, feiern, helfen, du musst leben.
Du musst aufwachen, die Augen öffnen, wieder lachen, erzählen, träumen, feiern, helfen, du musst leben. Wenn Du stirbst, stirbt all das, woran wir als Menschen geglauben haben. Das Gute.
Wir wissen nicht, was Du gerade denkst. Aber wir denken an Dich. In einer Zeit, in der wir als Gesellschaft intensiv über unsere Unterschiede diskutieren, hast Du uns vor Augen geführt, was wir gemeinsam haben: Unsere Werte. Unser Verständnis von Gut und Böse. Von Recht und Unrecht. Von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit.
Millionen von Menschen, verschiedenste Nationalitäten, Glaubensrichtungen, Weltanschauungen verurteilen einstimmig das, was Dir passiert ist. So schlimm das auch ist, was Du durchmachen musst, etwas Gutes hat es. Das wir uns wieder darauf besinnen Mensch zu sein. Wir alle wollen, dass Du wieder gesund wirst. Wir alle wollen, dass der Mann, der dir das angetan hart bestraft wird. Der Gerechtigkeitssinn scheint bei uns allen gleich zu sein.
Wir leben in einer Welt, in der wir unseren Kindern beibringen, hilfsbereit, gerecht und fair zu sein. Jetzt müssen wir erneut mit ansehen, wie hilfsbereite Menschen für ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlen müssen. Der Schlag, der dich ins Koma fallen lies, trifft uns mitten ins Herz. Er hat unsere Moralvorstellungen zutiefst verletzt. Er hat uns an unserem wundesten Punkt getroffen: Wir haben als Gesellschaft versagt. Weil wir immer noch Mitglieder haben, die Frauen belästigen, Frauen schlagen und auch Frauen töten. Weil wir Mitarbeiter in Restaurants haben, die erst einmal das Geld für ein Glas Wasser haben wollen, um das die Freunde der schwer verletzen Tuğçe bitten, die mit einem aufgeschlagenen Schädel vor der Tür liegt. Weil wir jetzt so hilfslos sind und nichts anderes tun können als darum zu beten, dass Du nicht von uns gehst. Weil Du dich alleine getraut hast zu helfen, während wir nicht wissen, wie wir dir helfen können.
Deine Eltern mussten heute von deinen Ärzten hören, dass es kaum noch Hoffnung für dich gibt. Sie sollen sich auf das Schlimmste gefasst machen. Dein Vater hat gesagt, er hat drei Kinder. Zwei Söhne und dich, seine tragende Säule. Lasse ihn nicht zusammenstürzen – und uns auch nicht. Bitte stirb nicht, damit der Glaube an das Gute weiterleben kann.
Candan Six-Sasmaz