„Denk-Mal!“ – Mahnkundgebung zu 70 Jahre Kriegsende am 8. Mai vor dem Wetzlarer Dom
Ihrer Freude über den 70. Jahrestag des Endes von Krieg und Nazi-Terror gaben rund 60 Menschen mit einer Kundgebung vor dem Wetzlarer Dom Ausdruck. Als Zeitzeugen berichtete das Wetzlarer Ehepaar Jäckel, wie sie persönlich die „Stunde Null“ erlebt haben: „Meine Mutter und meine Großeltern waren bereits in Auschwitz umgebracht worden. Der Einmarsch der Amerikaner rettete mir das Leben, weil ich als ‚jüdisches Mischlingskind‘ auch noch hätte ermordet werden sollen“, erinnert sich Gisela Jäckel.
Ihr Mann Manfred ist Geburtsjahrgang 1929 und wurde als Jugendlicher noch „gezogen“: „Wir haben in der Schule Hitlers Geburtstag auswendiggelernt und parieren gelernt. Wir verstanden die Situation damals nicht, befreit fühlten wir uns nicht. Wir hatten eine diffuse Wut auf die Russen, Briten und Amerikaner. Ich selbst geriet in Kriegsgefangenschaft“, berichtete Jäckel. Den anwesenden jungen Leuten rief er zu: „Seid wachsam. Lasst so etwas nie wieder zu!“. Heidi Janina Stiewink erinnerte an das Schicksal des Wetzlarer Bürgers Jakob Sauer, der kurz vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen ein Schild mit der Aufschrift „Schütze mein Haus. Wir sind keine Nazis und begrüßen die Befreier!“ angebracht hatte und daraufhin auf Geheiß von NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Haus von Volkssturmleuten am Portal des Friedhofs an der Bergstraße gelyncht wurde. Diakon Harald Würges und der katholische Pastoralreferent Joachim Schaefer kommentierten als ‚Optimist‘ und ‚Nörgler‘ 70 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Optimist hat sich behaglich eingerichtet: „Uns geht’s doch gut. Die Geschichte haben wir hinter uns gelassen. Wir leben in schönen Häusern. Die Welt guckt neidisch auf uns.“ „Nichts ist gut!“, ruft ihm ‚Nörgler‘ Schäfer von der Dom-Balustrade zu, „wir kaufen von Arbeitssklaven hergestellte Billig-Klamotten. Und ‚richtig gut‘ geht’s doch wohl nur den Reichen und den Banken“. 25 Jahre deutsche Einheit – ein Grund zur Freude und zum Optimismus? Auch hier gießt der Nörgler Wasser in den Wein: „Friedlicher Protest hat die Demokratie erkämpft. Aber die Volkssouveränität ist zu den Parteien abgewandert. Teile des Volkes wollen Deutschland von Ausländern säubern und NSU-Terroristen konnten jahrelang ungehindert zu Werke gehen!“. Widersprüchliches und jede Mange Reparaturbedarf also auch heute, in der Gegenwart.
Musikalisch wurde die Kundgebung von Horst Christill am Harmonium begleitet. Gemeinsam mit dem Wetzlarer Dom-Chor sang man zum Abschluss das Friedenslied „Where have all the flowers gone“ in englischer und deutscher Sprache. Die Veranstalter hatten im Vorfeld Absprachen mit Polizei und Staatsschutz getroffen, weil im Internet aus der rechten Ecke Drohungen gegen die Kundgebung ausgebracht worden waren, informierte Harald Würges.
(pi)